Editorial

Drei Erkenntnis-Aufgaben im Fische-Zeitalter und die «Schöpfung aus dem Nichts»

Editorial Europäer April/Mai 2012

Unsere Zeit ist die der bornierten Intelligenz. Zwar ist die Intelligenz vieler Menschen ungeheuer scharf und kompetent geworden – innerhalb fest abgesteckter Grenzen. Welche Intelligenz ist in die Konstruktion eines IPhone geflossen! Aber auch in den Bau modernster Mordwaffen. Ganz zu schweigen von betrügerischen Finanztechniken, die es Wenigen erlauben, sich am Untergang ganzer Nationen zu bereichern.

Eine wirkliche Erweiterung der Intelligenz kann sich nur daraus ergeben, dass sie auf den Kosmos des Geistes ausgedehnt wird.

Dazu braucht es Mut, Aktivität und statt bornierter – großer Gesichtspunk- te. In einem Vortrag vom 13. Dezember 1918 (GA 186) hob Rudolf Steiner drei elementare Erkenntnis-Aufgaben hervor, die heute zu bewältigen sind:
1. Die Einsicht, dass es in der Welt nicht nur Aufbau- sondern auch Niedergangskräfte gibt; er nannte dies Evolution und Involution.
2. Die Fähigkeit, einen spirituellen Mittelpunkt in sich zu schaffen, der auch trägt, wenn sich unter uns der Abgrund, das Nichts öffnet.
3. Die rückhaltlose Erkenntnis der Impulse des Egoismus.
Wie Auf- und Abbaukräfte in der Natur wirken, zeigt sich am Jahreslauf. Mit beiden in ein harmonisches Verhältnis zu kommen, lässt sich am Miterleben des Jahreslaufes erüben, worauf ein Leben mit dem Seelenkalender von Woche zu Woche vorbereiten kann. Nur muss dann auch das gleichzeitige polare Geschehen auf der Südhemisphäre miterlebt werden. Der Beitrag des australischen Anthroposophen Adrian Anderson ist eine gute Anleitung zu einer solchen ganzheitlichen Betrachtung des Jahreslaufes.

Der Artikel von Richard Ramsbotham über Shakespeare weist auf einen Gruppen-Egoismus besonderer Art: Gewisse anglo-amerikanische Kreise wollen durch gezielte Geschichtsfälschung eine unübersteigbare Kluft zwischen der Mitte Europas und dem Westen einerseits, Europa und dem Os- ten andererseits graben. Die Autorschaftsdebatte ist keineswegs eine rein literarische Angelegenheit. Sie ist eines der Mittel des Westens, die Funktion und Aufgabe Mitteleuropas auszuschalten.

Die Kommentare von Christin Schaub zur Apokalypse können als Anregung zur Erfüllung aller drei von Steiner gestellten Aufgaben gelesen werden. Dabei handelt es sich immer darum, alle drei Tendenzen oder Impulse in erster Linie in sich selbst, am eigenen Leibe oder in der eigenen Seele zu erfassen, was vor allem beim dritten Impuls höchst unangenehm sein kann…

Wie weit die Untergrabung der auf Individualisierung und Spiritualisierung angelegten mitteleuropäischen Anlagen gediehen ist, zeigt eine symptomatische Äußerung des Universitätsphilosophen Sloterdijk (S. 48), der seine spirituellen Bedürfnisse einst in Indien zu befriedigen suchte und der die «Freiheit» als ein Gut betrachtet, das in Zukunft nur noch von folkoristischem Wert sein werde.

Es steht natürlich auch in der Freiheit des Menschen, den Untergang der Freiheit zu befördern. Dann blieben aber die großen Aufgaben des Fischezeitalters*, das noch bis zum Jahre 3573 dauern wird und in welchem gerade auf Menschen-Freiheit gerechnet wird, unerfüllt. Keine Götter werden für deren Erfüllung sorgen. Diese Erfüllung muss freies und mutiges Menschenwerk sein oder, wie Steiner das auch nannte – eben weil keine Natur- und keine Geistesmacht dies erzwingen darf– eine «Schöpfung aus dem Nichts».

Thomas Meyer

* Rudolf Steiner in der Einleitung «Was gemeint ist» zum Kalender von 1912/13. Faksimile- Print des Kalenders als PDF zu kaufen auf der neuen Webseite www.perseus.ch.