Buch-Rezensionen

Rezension: Meyer: Der unverbrüchliche Vertrag

Die Publikation, Der unverbrüchliche Vertrag von Thomas Meyer, löste innerhalb der anthroposophische Gesellschaft die kontroversesten Reaktionen aus.

Während die Wochenschrift Das Goetheanum eine Rezension veröffentlichte, die sich auf den angeblich völlig unkünstlerischen Charakter des Werkes konzentrierte – wohl um dessen Kritk an gewissen Führungsgestalten der Anthroposophischen Gesellschaft umso leichter übergehen zu können -, veröffentlichte die Zeitschrift Info-3 eine enragierte Betrachtung von Ramon Brüll, der, um das Buch völlig zu vernichten, u.a. behauptete: “es erinnert an die Mysteriendramen Rudolf Steiners”, was allerdings Konkreteres über Brülls Geringschätzung dieser bedeutenden Dramen Steiners als über Meyers Roman aussagt.

Ganz anderer Ansicht war merkwürdigerweise René Querido, bis 1995 Generalsekretär der Anthroposophical Society in America.

René Querido über den Unverbrüchlichen Vertrag

Es ist in unseren Kreisen äußerst ungewöhnlich, einen Autor zu finden, der Romane schreibt. Nun hat Thomas Meyer – Leiter des Basler Perseus Verlags, bekannter Vortragsredner und Verfasser einiger hervorragender Biographien wie jener über Ludwig Polzer-Hoditz und D.N. Dunlop – unter dem zunächst rätselhaften Titel “Der unverbrüchliche Vertrag” einen Roman veröffentlicht, der vom Ende des Jahrtausends handelt und der im Jahre 1998 spielt.

Viele unter uns mögen sich wie Thomas Meyer gefragt haben: Wo sind die Anthroposophen, die am Anfang des Jahrhunderts Rudolf Steiner nahestanden? Wo haben sie sich wiederverkörpert und was für Menschen sind sie heute? Aus solchen Fragen wob der Autor eine dichte Erzählung: Deren Hauptgestalten, die schon zusammen um Rudolf Steiner gewesen waren, begegnen und erkennen sich am jetzigen Jahrhundertende.

Einige von Ihnen haben sich in Amerika verkörpert. Die Hauptrolle spielt Harold Freeman, ein 26jähriger gebildeter Amerikaner, der in Yale studierte und im Begriffe steht, eine erfolgreiche diplomatische Karriere einzuschlagen. Freeman spricht fließend Deutsch und Französisch, ist ein großer Verehrer von Emerson und Herman Grimm, deren karmische Verbindung ihm bewußt ist.

Die Erzählung beginnt in New York. Harold Freeman besteigt die “Queen Elizabeth”, um seine erste größere Europareise anzutreten. Auf der Reise beschäftigt er sich mit einigen Individualitäten, mit denen er schon früher verbunden gewesen war (zum Beispiel mit der Individualität, die in Kaiser Hadrian gewirkt hatte). Abends schreibt er seine Eindrücke der Geschehnisse des Tages nieder und schickt sie seiner Verlobten Fiona, einer Sopranistin an der Oper von Chikago. Meyer macht von diesem Verfahren durch das ganze Buch hindurch Gebrauch: Der Leser nimmt an den Ereignissen des Tages teil, dann schreibt Freeman einen Brief (oder Fax) an Fiona, wodurch wir in die Lage kommen, die tiefere Bedeutung der Ereignisse und Begegnungen zu erfassen; und dann erfahren wir die Antwort Fionas, die ein paar Tage später eintrifft.

Wer die Geschichte unserer Anthroposophischen Gesellschaft kennt und mit den Individualitäten um Rudolf Steiner einigermaßen vertraut ist, für den sind manche

Umkleidungen leicht durchsichtig, und mit etwas Imaginationsvermögen wird man die entsprechenden Persönlichkeiten vom Anfang des Jahrhunderts in den Gestalten des Romanes wiederfinden.

Harold Freeman verbringt eine Zeitlang in Paris und Chartres, wo ihm Erlebnisse aus seiner früheren Inkarnation aufgehen. Dann finden wir den jungen Diplomaten in Brüssel, wo er Sitzungen im Europaparlament mitmacht. Von da aus reist er nach Colmar, besucht den Odilienberg und erweckt dabei alte Verbindungen mit der Gralsgeschichte und Ereignisse aus dem Leben der Heiligen Odilie zu neuem Leben. Die spirituelle Entdeckungsreise mit ihren Begegnungen mit früheren Zeitgenossen führt uns nach Basel, Stuttgart, Wien, Prag, Weimar und London. Meyer entfaltet eine wahre Kunst darin, die besuchten Orte lebhaft zu beschreiben und uns etwas vom spirituellen “Aroma” jeder Stadt zu vermitteln.

Allmählich entdecken wir, daß sich der “unverbrüchliche Vertrag” auf ein Gelübde bezieht, daß 48 Individualitäten vor ihrer Geburt abgelegt hatten: Es handelt sich um das Versprechen, sich ganz dem Fortschritt der Menschheitsentwicklung im Lichte der Geisteswissenschaft zu widmen. Erst gegen Ende des Buches taucht der Name Rudolf Steiners auf, es ist aber durchwegs klar, daß es sich bei den Gestalten, denen wir begegnen, um enge Schüler Steiners handelt, sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart. Die meisten von ihnen sind bemerkenswerterweise in sozialen, wirtschaftlichen und industriellen Lebensbereichen tätig und haben alle ein tiefes Interesse an den Menschheitsangelegenheiten.

Ein paar Kritiker werden sagen: “Brauchen wir eine solche fiktive Behandlung der Sache?” – und das Buch in Bausch und Bogen verwerfen. Auf der anderen Seite kann es als ein mutiger Versuch betrachtet werden, sich vorzustellen, in welcher Art die R. Steiner Nahestehenden wiederkehren und am Ende des Jahrhunderts wieder tätig werden mögen – aus einem erneuerten Impuls der Geisteswissenschaft, wie er für die Morgenröte des neuen Jahrtausends nötig ist.

René M. Querido, Boulder Colorado

September 1998

 

Siehe auch Interview mit Rene Querido

Diese Rezension ist auch in engl. Sprache vorhanden: Review of a Novel by Thomas Meyer: «Der unverbrüchliche Vertrag»