Editorial

Die Erneuerung des anthroposophischen Strebens vor 100 Jahren – und heute?

Nach dem Rauswurf der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft aus der internationalen Theosophischen Gesellschaft im Dezember 1912 – bedingt durch die Nicht-Annahme der Krishnamurti-Doktrin durch Rudolf Steiner – wurde auf die Initiative von Mathilde Scholl hin beschlossen, eine Anthroposophische Gesellschaft zu gründen. Nach den fatalen Erfahrungen innerhalb der TG wirkte Steiner in dieser neuen Gesellschaft nur als Lehrer, ohne deren Mitglied zu sein.*

Ein neuer Zug ging nun durch Rudolf Steiners ganzes Wirken.

«Es war einfach nicht möglich», bilanziert Steiner in der Einleitung zum Haager Zyklus (GA 145) am 20. März 1913 die Wirksamkeit innerhalb der TG, «dasjenige, was man in berechtigter Weise Okkultismus nennt, in all seiner Weitherzigkeit und in seiner Angepasstheit an unseren gegenwärtigen Menschheitszyklus zur Geltung zu bringen. Und ich hoffe, wenn es uns gegönnt ist, die Anthroposophische Gesellschaft weiter zu führen, werden sich unsere Freunde überzeugen, dass die Befreiung von der Theosophischen Gesellschaft uns nicht bringen wird eine Verengung, sondern im Gegenteil gerade eine Erweiterung unseres okkulten Strebens.»**

Der Haager Zyklus war nach der am 7. März 1913 durch Annie Besant vorgenommenen Annullierung der Stiftungsurkunde der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft der erste umfassende Vortragszyklus nach der Trennung von der TG. Nicht zufällig finden sich gerade in ihm «Musterimaginationen» von ganz allgemein-menschlicher Bedeutung – als «Korrektur» und Ausgleich für die zahlreichen theosophischen Partikular-Imaginationen mit Täuschungscharakter, wie sie in der Krishnamurti-Illusion – er wurde ja als «wiederverkörperter Christus» ausgegeben – kulminierten.

100 Jahre nach dem Befreiungsschritt von 1912/13 ist ein entsprechender Schritt innerhalb der gegenwärtigen anthroposophischen Arbeit fällig. Ein solcher Schritt kann nur gelingen, wenn das weitgehend abgerissene Kontinuitätsbewusstsein wieder neu gebildet wird: d.h. wenn spirituell erneut und vermehrt an die Bemühungen Rudolf Steiners und seiner großer Schüler angeknüpft wird. Dies sind Schüler, die teils innerhalb der AAG selbst in Bedrängnis kamen wie Marie Steiner oder W.J. Stein, teils aus der 1923 neu gegründeten AAG ausgeschlossen wurden oder sie auch selbst verließen, ohne damit ihr Wirken für den anthroposophischen Universalimpuls abzuschwächen oder einzustellen.

Dieses Heft bringt Beiträge von solchen und über solche bedeutenden Schüler Rudolf Steiners – von W.J. Stein über Ludwig Polzer-Hoditz bis zu D.N. Dunlop und Bruno Krüger. Die Reihe solcher mit der Anthroposophie innerhalb oder außerhalb der Gesellschaft tief verbundener Schülergestalten ist damit natürlich keineswegs erschöpft und soll durch die genannten Beispiele nicht einseitig festgelegt werden.

Alle dogmatischen Versicherungen eines unbedingten Goodwills der geistigen Welt gegenüber einer Erdengesellschaft sind Schall und Rauch. Was zählt, ist die konkrete Substanz anthroposophischer Arbeit. Was zählt, ist der Wille zur Kontinuitätsbildung auf Grundlage wirklichen anthroposophischen Strebens. Was zählt, ist der verstehend-verehrende Blick auf die leuchtenden Sterne am Geisteshimmel des anthroposophischen Impulses.

Thomas Meyer

 

* Dies änderte er erst, als er zu Weihnachten 1923 die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft selbst begründete und zugleich deren ersten Vorsitz übernahm.

** Diese Einleitung wie auch die Schlussworte des Zyklus sind in GA 145 nicht enthalten und sollen in einer nächsten Nummer abgedruckt werden.