Editorial, News

Lenin vor dem «Leichnam Christi» – und die «Post-Fake-Ära»

An einem Novemberabend des Jahres 1916 stattete Wladimir I. Lenin (1870–1924), von seinem Zürcher Exil-Domizil herkommend, der Stadt Basel einen wenig bekannten Besuch ab. Der äußere Zweck war eine Ansprache vor russischen Akademikern, Arbeitern und Kaufleuten russischer Herkunft. Die Zusammenkunft fand im Erdgeschoss des heutigen Restaurants «Chez Donati» an der Johanniterbrücke statt. Die Ausführungen, die den Sturz des Zarismus forderten, fanden wenig Anklang. Lenin verabschiedete sich mit den Worten: «Von mir werden Sie noch hören.» Er übernachtete im Blaukreuzhaus, dem heutigen Hotel Rochat, in welchem regelmäßig Europäer-Samstage stattfinden. Hier konnte man damals billig speisen und nächtigen. Am anderen Morgen suchte er die Öffentliche Kunstsammlung auf und betrachtete lange und eingehend ein Bild, das in Dostojewskis Roman Der Idiot eine wichtige Rolle spielt: «Der Leichnam Christi» von Hans Holbein dem Jüngeren.*

Wegbereiter des «sozialistischen Experiments»

Am 15. März des folgenden Jahres kam es nach der Februarrevolution zum Sturz des Zaren.

Im April begann Lenin in Zürich seine legendäre Fahrt im plombierten Wagen durch Deutschland und Finnland nach Petersburg, wo er am 16. April eintraf.

Hundert Jahre später scheint der «Bolschewismus» längst Geschichte geworden, wenn auch die Wunden, die seine steinharte Geistigkeit der wahren russischen Volksseele geschlagen hat, längst nicht vernarbt sind.

Im Mausoleum Lenins in Moskau, das gegenwärtig restauriert wird, kann die mumifizierte und täglich am Scheinleben gehaltene Leiche in Anzug und Krawatte besichtigt werden. Der einstige Betrachter des «Leichnams Christi» ist selbst zum Jahrhundert-Leichnam geworden.

Ein neuer «Leninismus» im Westen

Doch der zersetzende Leichengeruch des Bolschewismus wirkt fort. Und heute weht er ausgerechnet aus dem gleichen Westen, der in seiner materialistischen Geist-Verfinsterung das sozialistische Experiment konzipiert und durch Werkzeuge wie Lenin in den Osten exportiert hatte. Stephen Bannon, Chefstratege der Trump-Regierung, brüstete sich offen mit Äußerungen wie den folgenden: «Finsternis ist gut (…) Es kann uns nur helfen, wenn die Gegenseite nicht erkennt, wer wir sind und was wir vorhaben.» Und: «Ich bin Leninist. Lenin wollte den Staat zerstören. Und das ist auch mein Ziel. Ich will das ganze System zu einem krachenden Kollaps bringen und das gesamte heutige Establishment zerstören.»** Solche Bekenntnisse sind kein gutes Omen aus dem innersten Kern der neuen US-Regierung.

…und eine versöhnliche Stimme aus dem Osten

Wie anders tönt es heute aus dem Osten! Der russische Außenminister Lawrow rief kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu einer friedlichen Verständigung mit den USA auf und sprach von einer «Post-West-Weltordnung»: Zum Abschluss sagte er: «Wir stehen vor großen Herausforderungen und müssen Kompromisse finden. (…) Russland möchte mit niemandem einen Konflikt haben (…) Wir wollen einen Dialog, der zum Nutzen aller sein sollte (…), dann könnten wir (…) irgendwann eine Post-Fake-Ära erreichen.»***

Viel hängt gegenwärtig davon ab, ob Auferstehungsluft ins Denken und Empfinden einzieht und den Leichengeruch des toten Intellekts ersticken kann.

Thomas Meyer

* Adolf Wanner, Berühmte Gäste in Basel, Buchverlag der Basler Zeitung, 1982, S. 91 ff.
** Zitiert nach NZZ am Sonntag, 5. 2. 1917.
*** https://deutsch.rt.com/international/46670-lawrow-zeit-neue-weltordnung-eu-usa-sicherheitskonferenz/