Editorial, News

Die reine Ätherströmung aller Menschheit

Überall erblicken wir Konflikte. Im Politischen, im Wirtschaftlichen, im Zwischenmenschlichen. Das Spektrum reicht von harmlos scheinenden Streitereien bis zu ausgewachsenen Kriegen mit ihren Verheerungen und Zerstörungen. Es wäre unmöglich, eine konfliktlose Gegend der Welt zu nennen, insofern sie von Menschen bevölkert ist.
Wo Konflikt ist, herrscht die Zweiheit. Menschen entzweien sich untereinander, leben aber auch im inneren Zwiespalt. Dieser gehöre eben zum Kern der menschlichen Natur, meinen Viele. Von Kämpfen unter Menschen sprechen die Mythen aller Völker. Aber auch von Kämpfen in der ganzen außermenschlichen Welt. Berichten die Mythen nicht von unzähligen Götterkriegen? Der streitende Mensch befindet sich also sogar in mehr oder weniger guter Götter-Gesellschaft…
Das sei immer so gewesen und werde immer so bleiben, meinen Viele.
Ist dem so? «Immer» bezieht sich auf alles zeitliche Geschehen und Werden. Wie war es aber vor dem «Jetzt» und «Immer», das heißt vor dem Anfang der Zeit?

Schöpfung der Zeit
Darüber dachte schon der große Augustinus in seinen Bekenntnissen nach. Und er stellte die Frage, was Gott denn vor der Erschaffung der Zeit getan habe. Doch da er scharfsinnig bemerkte, dass die Frage in dieser Form gar nicht zu stellen ist, da sie mit ihrem «vor» bereits Zeit voraussetzt, eben bevor sie geschaffen war, antwortete er gleich selbst: Da habe Gott Ruten geschnitzt für unnütze Frager.
Aber Augustinus wollte damit nicht sagen, dass es keine «Zeit» gab, in der keine Zeit war. Dass die Schöpfung insgesamt nicht auch die Schöpfung der Zeit beinhalte.
Auch der griechische Mythos zeigt ein zeitschaffendes Wesen: den Chronos. Aber er zeigt ihn sogleich in Konflikt geraten mit seinem Vater Uranos, den er entmannt.
Hier fügt die moderne Geisteswissenschaft Rudolf Steiners eine sehr essentielle Ergänzung hinzu (25. 8. 1911, GA 129): «Erst mit dem Momente, da die Saturnentwickelung beginnt, setzt die Zweiheit in allem makrokosmischen Wirken ein. Diese Zweiheit deutet die griechische Mythologie dadurch an, dass sie den alten Saturn oder Kronos, wie ihn die alten Griechen nannten, zugleich zum Gegner seines Vaters, des Uranos, macht, und dadurch ist zugleich angezeigt, dass sie sich bewusst ist, dass ursprünglich eine Einheit aller makrokosmischen Kräfte vorliegt.» Und: «Als die Saturnentwicklung begonnen hat, besser gesagt, ‹bevor› sie noch begonnen hat, da ist die Ätherströmung aller Menschheit und aller Erdenentwickelung (…) noch eine einzige, und eigentlich entsteht in dem Momente, wo die Saturnentwickelung einsetzt, der Zwiespalt, die Zweiheit in den Kräften des Makrokosmos.»
Etwas von diesem Zwiespalt lebt von da an in allen Wesen, auch in allen mikrokosmischen Wesen wie dem Menschen fort. Aber ursprünglich war und ist er nicht. Am Ursprung stand die einig-harmonische Ätherströmung der Menschheit. Dieser sollen wir uns wieder zuzuwenden lernen.

Der Lebensstrom der Menschheit
Dies meditierend zu tun, ist ein Kernbeitrag zu jeder, auch aller äußeren Konfliktlösung, zunächst im einzelnen Menschen. Dazu gehört Selbstlosigkeit. Und die Hilfe durch das einzige makrokosmische Wesen, das den Zwiespalt niemals in sich getragen hat, und durch den ihm dienenden sieghaften Geist Michael.

Sieghafter Geist
Durchflamme die Ohnmacht
Zaghafter Seelen.
Verbrenne die Ichsucht,
Entzünde das Mitleid,
Dass Selbstlosigkeit,
der Lebensstrom der Menschheit,
Wallt als Quelle der geistigen Wiedergeburt.

In diesem Spruch Rudolf Steiners (in GA 40) wird von keinem anderen Lebensstrom gesprochen, als von der «Ätherströmung aller Menschheit», die vor aller Entwicklung war. Zu der wir uns, über allen Konflikt hinaus, wahrhaft friedenstiftend, erheben können. Denn wir atmen, wenn auch vielleicht nur für Augenblicke, in der Sphäre vor allem und nach allem Konflikt.

Thomas Meyer